Freitag, 30. Januar 2009

Flammenbaum und Sky Lords

Rätselhafte Geschichte der Mixteken

Gisela Ermel

In: Sagenhafte Zeiten, Nr. 1, Beatenberg 2007





Wer waren die Mixteken? Für die Archäologen bedeutet es ein noch ungelöstes Rätsel der Vergangenheit, dass dies Volk - wie aus dem Nichts - erst im 7. Jahrhundert in Erscheinung trat. Ausgrabungen in Oaxaca, einem Gebiet südwestlich von Mexico City, das bis an die Pazifikküste herabreicht, brachten zutage, dass hier zuvor bereits die Zapoteken ansässig waren, die dann von den Mixteken überrollt wurden. Woher diese kamen, ist unbekannt. Sie selbst nannten sich Nudzahui, die "Leute des Regengottes. (1 + 2) Doch die Azteken nannten ihre Nachbarn Mixteken: "Volk aus dem Wolkenland". (1)

Trotz der kleinen Königtümer ohne Zentralregierung hatten die Mixteken ein sehr ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine gemeinsam überlieferte Geschichte, die sie später in Bilderhandschriften niederlegten. Die Mixteken waren die besten Goldschmiede Mittelamerikas und kannten eine ganze Reihe verschiedener Metalle sowie Edelsteinbearbeitungstechniken. Wo und von wem die bei den Mixteken bereits voll ausgebildete Goldschmiedekunst entwickelt wurde, ist unbekannt, vermutet wird jedoch, dass sie die Metallverarbeitung aus den südlichen Gebieten (Panamá, Kolumbien, Ecuador) erlernten. (3)

Im westlichen Teil des modernen mexikanischen Bundesstaates Oaxaca finden derzeit nur wenige archäologische Ausgrabungen statt, da hier schwierige Verhältnisse herrschen, die gar nichts mehr gemein haben mit der Romantik der frühen Ausgräberzeit. Alfonso Caso beispielsweise konnte noch in den 1930er Jahren in Monte Alban, unweit der Stadt Oaxaca, seelenruhig einen unglaublich reichen Begräbnisschatz ans Tageslicht fördern, darunter einen Bergkristallschädel und wunderschöne goldene Artefakte, die meisterhaft von mixtekischen Metallbearbeitern hergestellt worden waren.

Heute müssen sich die Ausgräber mit massivem Widerstand der Einheimischen auseinandersetzen und haben Schwierigkeiten bei zuständigen Ämtern. Archäologen wird der Zugang zu Ausgrabungsstätten verweigert oder das Betreten von Privatland nicht gestattet, und Anwohner als auch Amtspersonen wechseln listig von Spanisch zu Eingeborenen-Dialekten, um die Kommunikation zu erschweren.

Viele mixtekische Ruinen zerfallen inzwischen mit beängstigender Geschwindigkeit. Hinzu kommt, dass an zahlreichen Stätten die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert mit Vorliebe ihre Kirchen und Häuser direkt auf alte Tempel- oder Palastruinen erbauten, so dass hier neben Wind und Wetter auch noch das schwere spanische Mauerwerk zur allgemeinen Zerstörung beiträgt. (4)

Von den zahlreichen mixtekischen Stätten wurden bislang lediglich Monte Alban und Mitla archäologisch genauer erkundet. Beides sind uralte Städte, deren Gründung bis ins 5. oder 6. Jh. v.Chr. zurückreicht und die die Mixteken nicht erbauten, sondern von den Zapoteken eroberten. Unsere Kenntnisse über die Mixteken sind mehr als lückenhaft. Mixtekische Artefakte oder Ruinen aus der Zeit vor dem 7. Jh. gibt es nicht. Was dies bedeutet, ist noch völlig unklar.

Folgende Fakten geben noch immer Rätsel auf:
  • Die Mixteken bzw. deren Kultur tauchen archäologisch gesehen erst ab dem 7./8. Jh. auf.

  • Die Mixteken überliefern in ihren Bilderhandschriften, dass ihre Dynastiegründer und / oder Ahnen aus Apoala-Achiutla stammten, dort "mirakulös geboren" aus einem Flammenbaum. Das früheste Datum der Codices - 692 n.Chr. - steht im Codex Bodley und bezeichnet das Jahr, in dem die "überirdische" Gründerin der ersten Dynastie, Lady Eins Tod, per Flammenbaum die mittelamerikanische Welt betrat. Die göttliche Abstammung bedeutete den Mixteken so viel, dass sie ihre Herrscher der verschiedenen Dynastien und Königtümer eher mit Schwester oder Bruder verheirateten, als die göttliche Abstammungslinie enden zu lassen. Die Herrscher der Königtümer hiessen Yya, ein Wort, das sowohl "Gott" als auch "Herr" bedeutet. (1 + 2 + 5 + 6)

  • Die Mixteken überliefern in ihren Bilderhandschriften, dass es Kontakt gab zwischen vom Himmel herabgestiegenen Personen und den Erdbewohnern. Die herabgekommenen Wesen werden von den Bilderhandschriftenforschern als Sky Lords, "Herrscher des Himmels" bezeichnet, im Gegensatz zu den irdischen Herrschern, den Earth Lords. Zur Ausstattung dieser Sky Lords gehörten rätselhafte Stäbe, die man in Szenen in Tempeln abbildete. Zudem trugen sie "Heilige Bündel" bei sich, die ebenfalls in das Bildprogramm der Tempel integriert wurden und die in vielfältige Rituale involviert sind. Seltsame Objekte, "Masken" und "Verkleidungen", die man später an Priestern sieht, die diese Sky Lords imitierten, vervollständigten die Ausrüstung dieser himmlischen Gesandten. (5 + 7 + 8)

Apoala - die Flammenstadt

Inmitten der heutigen Provinz Mixteca Alta befindet sich eine sagenumwobene Örtlichkeit: Apoala-Achiutla. Für die Mixteken begann genau hier alles: das Auftauchen mehrerer göttlicher Ahnen, der Begründer der mixtekischen Königshäuser. Und hier stiegen etwas später geheimnisvolle Sky Lords mehr als einmal von "droben" auf die Erde herab, ausgestattet mit rätselhaften Gegenständen. Die Bilderhandschriften beschreiben diesen Ort als Stätte der Flammen und als Ort der Herabkunft der Gründer des mixtekischen Reiches mit seinen kleinen Königtümern und Dynastien. Die Rede ist auch von einer "Flammenstadt" oder "Nuundecu", was "Ort des Brennens" bedeutet. (5 + 6 + 7)

Der Codex Bodley bildet bei Apoala einen von Flammen umgebenen "Baum" ab, aus dem die Vorfahren der mixtekischen Herrscherfamilien herauskommen. Hier sehen wir den Event des Jahres 692 n.Chr., das Ereignis, das uns die Ankunft von Sky Lady Eins Tod zeigt. (9 + 10)


Der Codex Vindobonensis startet mit der später von den Historikern als Blatt 37 bezeichneten Seite. Man nennt sie "Baumszenen-Seite", und auf ihr sieht man Götter, die rätselhaften Beschäftigungen nachgehen, die zu tun haben mit einem grossen baumartigen Gegenstand im Zentrum der Szene.




Blatt 37 des Codex Vinbobonensis: die "Baumszenen-Seite"



Aus dem baumartigen Objekt heraus werden "mirakulös geboren" (so die Umschreibung mehrerer Bilderhandschriftenforscher) Männer und Frauen, die ersten Herrscher des nun beginnenden Mixtekenvolkes. Ihre Namen werden auf den folgenden Seiten aufgelistet, darunter Lord Eins Blume und Lady Dreizehn Blume, die in einer späteren Szene heiraten und bekannt sind als Ahnen des berühmten Mixtekenherrschers Acht Hirsch. (1 + 7 + 11)

Oder nehmen wir die Genealogische Liste der Fürsten von Jaltepec. Hier kommt ein Mann im "Ort der Flammen" aus einem Baum hervorgeklettert. Der Baum sehe aus, als sei er von "Nacht- und Nebelschlangen" umwunden. (12)

Der Codex Selden zeigt gleich zu Beginn die "Geburt" von Lord Zwei Gras aus dem Baum von Achiutla. Der Baum ist mit einem "Auge" versehen, das in mixtekischen Codices identisch ist mit dem Zeichen für "Stern". Umwunden wird der geheimnisvolle "Baum" von zwei schlangenartigen Objekten, eines davon mit Daunenbällen ausgestattet, dem Symbol für "fliegen". (13 + 14)





Codex Selden Seite 2: Hier wird die "Baumgeburts-"Szene gezeigt



Was hat man nicht alles in diesen "Baum" von Apoala hineingedeutt, der den Beginn der überlieferten mixtekischen Geschichte markiert. Wenig brauchbar sind die Schilderungen früher spanischer Chronisten und Autoren. Mal heisst der Ort Apoala, dann wieder Achiutla, dann wieder wird vermutet, beide Orte seien identisch oder beisammenliegend. Man stellte sich reale Bäume vor wie die in einer volkstümlichen Version aus der späten Kolonialzeit. In dieser Geschichte wird von zwei riesigen Bäumen erzählt, die am Ufer des Achiutla-Flusses auf dem Land Apoala standen und die in einigem Abstand voneinander wuchsen. Diese Bäume nun sollen sich ineinander verliebt haben, so sehr, dass sie ihre Zweige und Wurzeln miteinander verbanden. Aus dieser perfekten Liebe sei das erste mixtekische Paar geboren worden, die Ahnen aller mixtekischen Dynastien. (13)

Diese späten Versionen haben nicht mehr viel zu tu mit dem baumartigen, Flammen ausstrahlenden oder mit"fliegenden Schlangen" umwundenen Gegenstand der viel älteren mixtekischen Bilderhandschriften. Von einem "Baum" reden ja überhaupt erst die historischen Quellen und die heutigen Bilderhandschriftenforscher. Die ursprüngliche Bezeichnung und Bedeutung der Mixteken kennen wir nicht.

Die Dorfbewohner des heutigen Apoala wollen immer noch wissen, wo sich die Stelle befindet, an der der Flammenbaum einst stand. (15) Aber wir können uns noch nicht einmal sicher sein, wo genau sich die prähistorische Stätte Apoala befand. Nahe dem heutigen Ort Santiago Apoala gibt es in der Tat einen archäologischen Fundplatz, doch hier hat noch keine umfangreiche Ausgrabung stattgefunden.

Von dem zweiten Ort, Achiutla, der möglicherweise aber mit Apoala identisch war, wissen wir, dass diese "Flammenstadt" das Zentrum eines bedeutenden mixtekischen Königtums darstellte. Auf heutigen Landkarten sind die Orte San Miguel Achiutla und San Juan Achiutla verzeichnet. Diese Stätten, ebenso wie Santiago Apoala, befinden sich in der Nähe von Tilantongo, dem ehemaligen "Haus des Himmels", der "Schwarzen Stadt mit dem Himmelstempel", der ersten Hauptstadt des Mixtekenreiches. (15)
Achiutla war nicht nur eine bedeutende Königsstadt, Achiutla war auch das Hauptkultzentrum der Mixteken. Dieser Ort, so erfährt man aus den Bilderhandschriften und den Werken früher spanischer Chronisten, hatte ein mächtiges Orakel, das von Ratsuchenden aus nah und fern aufgesucht wurde. Noch zur Zeit der spanischen Eroberer hiess es, dort werde ein riesiger, geheimnisvoller, sprechender Smaragd aufbewahrt und verehrt, bekannt als das "Herz des Volkes". Bis in die Eroberungszeit hinein soll dieses Orakel aufgesucht worden sein. Als sich in Tenochtitlan, der grossen Aztekenmetropole, die Kunde verbreitete, dass fremde Weisse an der Küste gelandet seien, soll Montezuma, der Herrscher der Azteken, den Hohepriester von Achiutla konsultiert haben. Der liess seinem nicht sehr geliebten Nachbarn ausrichten, dass das Orakel das Ende des Aztekenreiches vorausgesagt habe. Das Orakel behielt recht.
Als dann die ersten Eroberer bis ins Gebiet der Mixteken vordrangen - erst gut 30 Jahre nach der Unterwerfung von Tenochtitlan - war der "sprechende Smaragd" verschwunden. (1) Die bald folgenden Dominikaner erbauten ihre katholischen Kirchen direkt auf dem Berggipfel auf dem durch die Spanier zerstörten Orakeltempel. Sollte sich hier einst ein Tempel befunden haben, in dem ein Gegenstand aufbewahrt wurde (oder eine Imitation desselben), der einst zur Ausstattung der vom Himmel herabsteigenden Lords gehört hatte?

Herabkunft vom Himmel
Eine Bilderhandschrift der Mixteken, die von solch einem Besuch herabsteigender Sky Lords berichtet, ist der Codex Zouche-Nuttall (16 + 17 + 18). Die Ereignisse, die hier comicartig dargestellt wurden, umfassen die Zeit zwischen 838 und 1330 n.Chr., jedoch nicht streng chronologisch, was diese Bilderhandschrift wie viele andere sehr schwer interpretierbar macht.
Seite 18 dieses Codex beschreibt die Herabkunft einiger Himmelsbewohner auf die Erde. Man sieht oben in der "im Himmel" spielenden Szene zwei Götter thronen, zwischen ihnen eine "Sonne mit dem Zeichen für Bewegung im Innern" (so der Codex-Forscher John Pohl). Aus einer Öffnung unten am Himmel hängt ein "Federseil" herab, und hinunter schreiten Sky Lord Drei Feuerstein mit dem so rätselhaften Venus- oder Quincunx-Stab sowie die Sky Lords Zwölf Wind, Fünf Hund und ein namentlich nicht genannter weiterer Sky Lord.


Codex Zouche-Nuttall Seite 18

Ein "Heiliges Bündel" (als solches einhellig von allen Bilderhandschriftenforschern identifiziert) steht bereits abtransportfähig vor Sky Lord Zwölf Wind auf dem Erdboden am Ende des Federseils. Die Szene der Ankunft auf dem Erdboden spielt an einer Örtlichkeit, die dank der hinzugefügten Ortsglyphe durch Maarten Jansen als Apoala indentifiziert werden konnte. Warum diese Sky Lords nicht wieder aus einem "Flammenbaum" klettern, sondern an einem "Federseil" auf die Erde herunterturnen, ist ungeklärt. Bei diesem ersten Kontakt mit Sky Lord Zwölf Wind und dessen Begleitern steht eine Empfangsdelegation eingeborener Personen mit Geschenken bereit, in einer späteren Szene hat man offensichtlich etliche Ausrüstungsgegenstände der Sky Lords in und vor einem Tempel deponiert: im Tempel das Heilige Bündel, vor dem Tempel u.a. der mysteriöse Venusstab.


Ausrüstungsgegenstände der Sky Lords: im Tempel das Heilige Bündel, davor die rästelhaften Stäbe: Codex Zouche-Nuttall

Auf Seite 19 dieses Codex wird eine zweite Herabkunft einiger Himmelsbewohner auf die Erde dargestellt. Der Zweck dieses Besuches ist die Vermählung von einem dieser Sky Lords - Lord Zwölf Wind - mit einer Eingeborenen-Frau - Lady Drei Feuerstein die Jüngere.


Codex Zouche-Nuttall Seite 19: zweite Herabkunft der Sky Lords

Am oberen rechten Seitenrand sieht man zunächst eine Szene, die im Himmel spielt. Lord Zwölf Wind sitzt zwischen merkwürdigen Gestalten, zwei sog. "Gefiederten Schlangen", aus deren geöffnetem Rachen jeweils ein Götterkopf hervorschaut. Die Szene ist umrandet von Sternen, Sonne und Mond, und in der Mitte des Himmels führt auch hier wieder ein "Federseil" aus einer Öffnung herab bis hinunter auf die Erde. Man sieht Sky Lord Zwölf Wind und seine Begleiter zunächst kopfunter vom Himmel herabturnen, dann schreiten sie auf dem Seil weiter der Erde entgegen. Einer der Sky Lords trägt dabei ein Heiliges Bündel auf dem Rücken. Wieder werden die Besucher von droben empfangen von einer Delegation von Eingeborenen mit Geschenken.
Die zweite Hälfte der Doppelseite schildert sodann die Heirat von Sky Lord Zwölf Wind mit Lady Drei Feuerstein die Jüngere. Schon ihre Mutter, Lady Drei Feuertein die Ältere, hatte einen Sky Lord geheiratet, Lord Fünf Blume. Dessen Herabkunft vom Himmel wird auf Seite 14 des Codex durch eine Fussspur zwischen Himmel und Erde dargestellt.
In späteren Szenen dieses Codex tauchen einige der Ausstattungsgegenstände der Sky Lords in Tempeln auf oder als Mittelpunkt verschiedener Riten. Kam so ein Heiliges Bündel an die spätere Orakelstätte Achiutla? Aus anderen Codices und historischen Dokumenten (Codex Boturini, Codex Borgia, Duran, Pomar, Camargo, Chimalpahin, Tezozomoc, Sahagun u.a.) wissen wir, dass das Heilige Bündel die Sprache eines Gottes oder Himmelswesens übertrug. (19 + 20) Ein Kommunikationsgerät? Von fern und nah aufgesuchte Orakelstätten der Mixteken gab es auch in Chalcatongo und in Mitla, dort "Der Grosse Seher" genannt. (1 + 7)
Nirgendwo anders tauchen so viele Heilige Bündel auf, wie in den mixtekischen Codices. Die Mixteken hatten verschiedene Zeremonien, bei denen ein Heiliges Bündel die zentrale Rolle spielte. Dieser Gegenstand war ein wichtiges Requisit beim Amtsantritt der mixtekischen Herrscher, wie z.B. bei der Königsweihe von Lord Vier Wind im Jahr 1067 (Codex Bodley)


Codex Bodley: Lord Vier Wind reist nach seiner Amtseinführung mit dem Heiligen Bündel, dessen Hüter er nun ist, per Boot in seinen Palast

Der Amtsantritt fand statt im "Tempel des Heiligen Bündels". Das Heilige Bündel selbst wird als wichtigster Gegenstand neben dem Herrscher stehend gezeigt. (10) Auch beim Amtsantritt des berühmt-berüchtigten Mixteken-Herrschers Acht Hirsch, Regent in der Hauptstadt Tilantongo und Eroberer zahlreicher Städte, stand im Jahr 1045 ein Heiliges Bündel neben dem neuen Herrscher, dessen Hüter er sodann wurde. (16 + 17 + 18) So stellt es der Codex Zouche-Nuttall dar. Acht Hirsch gilt als Nachkömmling göttlicher Ahnen von Apoala, den "Baumgeburten" Lord Eins Blume und Lady Dreizehn Blume. (21 + 22)
Aus Dokumenten über die mittelalterlichen Inquisitionsprozesse, die auch in Mexiko durchgeführt wurden, wissen wir, dass u.a. in Yanhuitlan ein "heidnischer Priester", Lord Sieben Affe, ein Heiliges Bündel gehütet habe, mit dem er "rede", wenn er Rat brauche, so der Angeklagte des Prozesses, der diesen Priester bei sich beherbergte. Lord Sieben Affe aber war ein Nachkomme des legendären Mixtekenherrschers Acht Hirsch und damit ebenfalls Nachkömmling der mysteriösen "Baumgeburten". (23 + 24)
Für die Mixteken war das Heilige Bündel - ein Gegenstand, den die Sky Lords von "droben" mit auf die Erde herab gebracht hatten - so wichtig, dass vor ihm geopfert wurde. Vor diesem Kultobjekt wurde geräuchert, ihm wurden Herzen und Adler geopfert, vielleicht sogar Kriegsgefangene. Heilige Bündel spielten eine Rolle bei Heiratszeremonien, wurden auf Eroberungszüge mitgeschleppt, und schon vor dem Kriegszug wurden sie um Rat "angerufen". (19 + 20)
Die mixtekischen Bilderhandschriften schildern noch etliche weitere Besuche von "droben". Lady Eins Tod, von den Bilderhandschriftenforschern als "Überirdische", Sky Lady und "Baumgeburt" umschrieben und laut Codex Bodley im Jahr 692 per Flammenbaum in die Geschichte der Mixteken getreten, erscheint auch im Codex Zouche-Nuttall. (16 + 17 + 18)


Codex Zouche-Nuttall: Szenen mit Lady Eins Tod

Über der Szene links sieht man einen Himmel, als Wohnung bezeichnet von Fünf Schlange und Vier Haus, daran eine Sonnenscheibe, die hier jedoch ganz unüblich dargestellt ist mit einem rechteckigen herabhängenden Strahlenband mit Daunenbällen und einem Totenschädel im Innern der Scheibe. Unten auf der Szene befindet sich die merkwürdige Sonne auf einem Hügel hinter Lady Eins Tod, vor der eine Gestalt mit "Vogelverkleidung" marschiert sowie ein Adlerwesen. Zwischen Himmel und Hügel befindet sich ein Tempel, in dem als einziger Gegenstand ein Heiliges Bündel steht. Auf dem Platz vor dem Tempel wieder der Mann, der zuvor die Vogelverkleidung trug, diesmal ausgestattet mit einer "Regengottmaske" vor dem Gesicht. Vor ihm steht das Adlerwesen, und hinter ihm sieht man Sky Lord Zwölf Wind mit einem Veusstab, auf dem Rücken einen kleinen Tempel mit Heiligem Bündel tragend.
Von dieser Szene verstehen wir bis heute so gut wie nichts! Der Ort der Handlung wird bezeichnet als "Hill of the Sun", und einige Bilderhandschriftenforscher identifizieren ihn mit Apoala-Achiutla. Die Forscher Byland und Pohl (15), die die Gegend um San Miguel Achiutla bereisten, vermuten, dass der Berg Yucu Gandi oberhalb einer noch unausgegrabenen archäologischen Stätte dieser "Berg der Sonne" sei. Mixtekische Artefakte gibt es in dieser Region aus der Zeit ab ca. 800 n.Chr. Gut hundert Jahre später gab es hier das Zentrum des Königtums von Achiutla mit dem Orakel-Kulttempel. An diesem Ort müssen sich damals wichtige und gerade für die Palöo-SETI-Forschung interessante Geschehnisse ereignet haben, doch für die Archäologie ist diese Region noch Neuland, und es gab bisher ausser wenigen Oberflächenbegehungen noch keine Erforschung. Was mag hier unter der Erde auf eine Entdeckung warten?
Der Codex Selden (13 + 14) schildert das Herabkommen der Sky Lords - beide Eins Wasser genannt - und der Sky Lady Drei Adler auf eine ganz andere Weise. Hier gibt es keinen Flammenbaum, kein herabhängendes Himmelsseil und keine auf dem Hügel "parkende Sonne", sondern hier schiessen zwei Götter einen Pfeil auf die Erde herab, worauf aus der Einschlagsstelle hevor die Sky Lords die Erde betreten. Es sind die Gründer der Dynastie von Jaltepec, später durch Heirat mit "Baumgeburt" Lord Zwei Gras aus Apoala verbunden. Jaltepec war übrigens zur Zeit der Mixteken ein bedeutendes Zentrum für Edelsteinbearbeitung; einer der berühmten Kristallschädel soll von hier stammen. Spätere Szenen des Codex, die in Jaltepec spielen, zeigen ein Heiliges Bündel in einem Tempel, vor dem Tabakopfer dargebracht werden. Ein Hügel an der Stelle des alten Palastes, heute "Vehe nuhu" genannt, erinnert mit diesem Namen noch immer an den Nuhu-Tempel, den Tempel der Nuhu = der "Sternenmänner aus dem Himmel". (15)

Rätselhafte Ikonographie
Zu verstehen, welche Ereignisse auf diesen und anderen Szenen der Bilderhandschriften dargestellt sind, wird erschwert durch zwei Hindernisse. Erstens wurden die Szenen zum grössten Teil erst etliche hundert Jahre nach den dargestellten Ereignissen niedergelegt und damit automatisch so, wie die Zeichner sich die überlieferten Ereignisse bildlich vorstellten. Zweitens wird nun alles durch die modernen Bilderhandschriftenforscher mit Begriffen und Erklärungen ausgestattet, und damit automatisch so, wie diese sich das Dargestellte erklären. Was ein Bilderhandschriftenforscher "Sonne" nennt oder "Regengottmaske", muss nicht unbedingt das sein, was der Zeichner meinte, und was ein Mixteke als "Himmelsseil" darstellte, muss nicht ein reales Seil meinen, das vom Himmel (von wo?) herabhing, damit die Sky Lords munter daran herunterturnen konnten.
Warum z.B. wird Sky Lord Acht Wind mal mit einem aufgeklappten "Adlerhelm" dargestellt, dann in voller "Adlerausstattung", und dann mit dem Beinamen "Stein Adler" (nicht: Steinadler!) versehen? Am "Adlerhelm" ist eine Art "Schnabel" oder "Rüssel", ein "scharfes edelsteinartiges Objekt" vor dem Mund oder ein "gegabelter Vegetationsstab" und eine "dekorative Magueypflanze" an der Kehle. (18) Es wird höchste Zeit, dass sich einige Paläo-SETI-Forscher einmal diesen (Codex Zouche-Nuttall) und andere mixtekische Codices vorknöpfen und modern deuten.
Was bedeuten z.B. die Daunenbälle am sonnenähnlichen Objekt, das mal am Himmel, mal auf einem Hügel dargestellt wird? Daunenbälle, so meinen einige Bilderhandschriftenforscher, seien Symbole für "fliegen". Oder was ist Yahui, die "supernaturale muschelartige Kreatur" (so John Pohl) im Codex Zouche-Nuttall, die wie ein leuchtender Ball daherfliegt oder -schwebt? Oder was bedeutet das scheibenförmige Objekt des Codex Vindobonensis, das für Cottie Burland "wahrscheinlich ein Gummiball mit heraustretenden Flammen" ist (25)? Lustig auch das "Donut-Gerät" an Nase und Auge des Sky Lord Zwölf Wind oder die "rauchende Augenbraue", die dieser im Codex Zouche-Nuttall nach seiner Herabkunft aus dem Himmel trägt. (18)
Bilderhandschriftenforscher klagen insbesondere in bezug auf die mixtekischen Codices über "schwer deutbare Details" und Seiten, "deren religiös-mythologischer Sinn sicn nur bruchstückhaft begreifen" lasse. (26)
Ganz schwierig wird es, wenn man sich all die rätselhaften Stäbe anschaut, die Sky Lords bei sich trugen bei ihrer Herabkunft von "droben". Der Forscher Williams nennt diese Stäbe "Powerstäbe supernaturaler Besucher", ohne zu verraten, was mit dieser Power denn gemeint sei. (18) Die Bezeichnung "Venusstab" ist freilich auch nur eine moderne, sich orientierend am darauf befindlichen Quincunx-Symbol. Da das uralte Quincunx-Zeichen (es sieht aus wie die Fünf auf einem Würfel) als Hieroglyphe der Venus gedeutet wird (auch Archäologen spekulieren!), reden einige Forscher u.a. vom "Speer des Morgensterns" oder eben "Venusstab". (12)
Doch die Bedeutung dieses Zeichens ist uns gar nicht bekannt. Es kommt schon in der allerersten Zeit der Olmeken vor (ab 1200 v.Chr.), als diese einen Kultusprung vom Steinzeitbauern zur Hochkultur machten, und ziert hier z.B. einen jüngst gefundenen Keramikstempel, wobei der Punkt in der Mitte durch einen Stern ersetzt ist. (28) Es wird auch spekuliert, das Zeichen sei ein Fünf-Sonnen-Symbol oder ein Symbol für den Kosmos.
Was dieses Zeichen auf den Stäben der herabsteigenden Sky Lords der Mixteken bedeutet, ist den Altamerikanisten völlig unklar. Einen Sinn ergebe dies alles jedoch, wenn man die Überlieferungen, die abgebildeten Szenen und die Symbolik vor dem Hintergrund der Paläo-SETI-Theorie betrachtet.
Übrigens bekam der Ort Apoala schon einmal in ferner Vergangenheit unerwarteten "Himmelsbesuch". Hier wurde 1889 ein 85 kg schwerer Meteorit entdeckt, der heute im National History Museum in London zu bewundern ist. Wo aber mögen die Artefakte sein, die Kunde geben könnten von den Besuchen der Sky Lords bei den Mixteken?

Codex Vindobonensis: Sky Lord Neun Wind steigt vom Himmel herab auf die Erde

Was mag unter dem Erdboden der einstigen Städte wie Tilantongo, Chalcatongo, "Rot-Weiss-Bündel", Jaltepec usw. zu finden sein? Doch wohl Antworten auf die noch ungelösten Fragen um die Kultur der Mixteken - sofern man den Archäologen endlich das Ausgraben dieser Stätten erlaubt.

Literatur:
(1) = Spores, R.: The Mixtecs in Ancient and Colonial Times. Norman, Texas, 1967
(2) = Terraciano, Kevin: Nudzahui History: Mixtec Writing and Culture in Colonial Oaxaca. Diss., University of California, Los Angeles 1994
(3) = Eggebrecht, A. (Hg.): Geheimnisvolles altes Mexiko. Hildesheim, Augsburg 1994
(4) = Robles Garcia, Nelly M.: The Management of Archaeological Resources in Mexico: Oaxaca as an Case Studie. www.saa.org/publications/oaxaca
(5) = Spores, R.: The Mixtec Kings and Their People. Norman, Texas, 1967
(6) = Abrams, H. Leon: The Mixtec People. University of Nortern Colorado Museum of Anthropology, Miscellaneous Series Nr. 57, 1984
(7) = Pohl, John: The Earth Lords. Politics of Symbolism in the Mixtec Codices. Diss. University of California, Los Angeles 1984
(8) = Boone, Elisabeth H.: Stories in Red and Black. Pictoral Histories of the Aztecs and Mixtecs. Austin 2000
(9) = Caso, Alfonso: Interpretation of the Codex Bodley 2858. Mexico City 1960
(10) = Pohl, John: Codex Bodley. www.famsi.org/research/pohl/jpcodices/bodley
(11) = Furst, Jill: Codex Vindobonensis Mexicanus I: A Commentary. Albany 1978
(12) = Anders, Ferdinand / Maarten Jansen: Schrift und Buch im alten Mexiko. Graz 1988
(13) = Caso, Alfonso: Interpretation of the Codex Selden 3135. Mexico City 1966
(14) = Pohl, John: Codex Selden. www.famsi.org/research/pohl/jpcodices/selden
(15) = Byland, B.E. / John Pohl: In the Realm of Eight Deer. The Archaeology of the Mixtec Codices. Norman, Texas, 1994
(16) = Beckwith, John: The Codex Nuttall. www.nuttal.pair.com
(17) = Nuttall, Zelia: The Codex Nuttall. New York 1975
(18) = Williams, Robert: Codex Zouche-Nuttall "Obverse". In: Text Notes on Precolumbian Art, Writing and Culture, Nr. 20, Austin, September 1991
(19) = Nowotny, Karl A.: Tlacuilolli. Monumenta Americana II. Berlin 1961
(20) = Stenzel, Werner: Das Heilige Bündel in Mesoamerika. Diss. Wien 1967
(21) = Clark, James Cooper: The Story of Eight Deer. London 1912
(22) = Caso, Alfonso: Interpretation of the Codex Colombino. Mexico City 1966
(23) = Greeleaf, Richard E.: The Inqisition and the Indians of New Spain. In: The Americas, Nr. 22, 1965
(24) = Procesos de indios idolatras y Hechizeros. In: Publicaciones des Archivo General de la Nacion. III. Mexico City 1912
(25) = Burland, Cottie / Werner Forman: Gefiederte Schlange und Rauchender Spiegel. Freiburg i.Br. 1978
(26) = Biedermann, Hans: Altmexikos Heilige Bücher. Graz 1971
(27) = Pohl, Mary / K. Pope / Chr. von Nagy: Olmec Origins of Mesoamerican Writing. www.anthro.fsu.edu/research/meso/Pohltext.doc


Mehr zum Thema:
Gisela Ermel
Das Heilige Bündel der Azteken
Kultursprung, Masterplan und Götterstimmen: Mittelamerikas rätselhafte Vergangenheit
Ancient Mail-Verlag, Gross-Gerau 2007
ISBN 978-3-935910-44-6
270 Seiten, zahlreiche Abbildungen











Vom Werjaguar zum Regengott

Auf den Spuren eines rätselhaften Darstellungsmotives.
Gisela Ermel
Vortrag, gehalten auf dem 1-Day-Meeting der Forschungsgesellschaft für Archäologie, Astronautik und SETI, Siegen, Oktober 2008




Wer kennt ihn nicht, den berühmten "Astronauten" von El Baul, dargestellt auf einer Stele der mittelamerikanischen Olmeken? In zahlreichen Büchern der Paläo-SETI-Forscher wird er beschrieben als menschliche Figur, die eine Art Raumanzug mit Helm und Atemschlauch zu tragen scheint. Aus der Sicht der Altamerikanisten gehört dies Motiv in eine Reihe von Darstellungen, die eine erkennbare Entwicklung durchgemacht haben. Man findet das Motiv in Stein gehauen, auf Keramik, auf Wandgemälden, als Figurine, Maske, Statuette und vieles mehr. Wer oder was wurde hier dargestellt?
Um ca. 1200 v.Chr. machten Steinzeitbauern in Mittelamerika einen urplötzlichen Sprung zur Hochkultur, ganz ohne die dazu nötigen Zwischen- und Entwicklungsstufen. Sie begannen nicht nur von einem Tag auf den anderen damit, wie am Reissbrett entworfene Städte mit astronomisch-geometrischen Layout zu erbauen, sondern sie stellten auf einmal Figuren und Dinge dar, die phantastische und offenbar unrealistische Merkmale aufweisen.
Der Archäologe Saville, der in den 1920er Jahren Stätten dieser Kultur ausgrub, war der erste, der bemerkte, dass das beliebteste Motiv der Olmeken das einer Figur war, die anscheinend einen Menschen mit jaguarähnlichen, felinen Gesichtszügen und -merkmalen zeigte, wenn auch mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Doch was dieses Motiv bedeutet, wusste niemand.


Zeichnung von Covarrubias: Beispiele für Werjaguare und Regengötter

Covarrubias, ein mexikanischer Zeichner, bekannt für seine Analysen präkolumbischer Kunst, hatte sich in den 1940er Jahren intensiv mit dem sog. Werjaguar beschäftigt. Das Ergebnis waren mehrere Skizzen, von denen eine die Entwicklung des olmekischen Jaguarmenschen zum späteren Regengott der Zapoteken und Maya darstellte. Die typischen Merkmale der Figur waren u.a. diese: eine Kopfbedeckung, meist helmförmig, oft den ganzen Kopf umschliessend, manchmal mit einer Spalte obenauf, aus der ein Gegenstand hervorragte oder nicht, eine Art quadratisches Jaguarmaul mit fang- oder schlauchähnlichen Elementen, ein Nasen- oder Atemsymbol und merkwürdig stilisierte Augenbrauen.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts begannen die Forscher darüber zu debattieren, was hier wohl dargestellt worden sein mochte. Ein Jaguargott? Eine frühe Version des Regengottes? Ein Erdgott? Ein Schamane? Die Bezeichnung "Werjaguar", die sich relativ rasch einbürgerte, ist eine reine Phantasiebezeichnung der modernen Archäologen und sagt nichts darüber aus, was die Olmeken hatten darstellen wollen.
Dann fand Matthew Stirling ein Steinmonument in der olmekischen Stätte Potrero Nuevo, das offenbar einen mit einer weiblichen Person kopulierenden Jaguar zeigte. Gab es, so fragte er, eine Mythe, in der Mensch und Jaguar eine Rasse von Jaguarmenschen gezeugt hatten? Bald wurden noch zwei ähnliche Monumente gefunden, eines davon in San Lorenzo, der ältesten olmekischen Stadt.


Skizze von Relief-Figuren aus Chalcatzingo: "fliegende Olmeken"

Als sich eine ganze Reihe hochkarätiger Archäologen auf der Dumbarton Oaks-Konferenz im Oktober 1967 intensiv mit dem Werjaguar auseinandersetzte, kam u.a. Kent Reilly mit einer ganz neuen Spekulation daher. Die sog. "Fliegenden Olmeken" von Chalcatzingo, typische Jaguarmenschen mit Helm und rätselhaftem Gegenstand in der Hand, umgeben von Vögeln, könnten eine Verbindung zum Himmel symbolisieen und eventuell einen fliegenden Schamanen dartsellen. Da gab es nur einen Haken. Man wusste nicht, ob die Olmeken überhaupt so etwas wie Schamanismus gekannt oder praktiziert hatten. Es gab keinerlei Funde, die darauf hinwiesen.

Zeichnung von Covarrubias
Auch auf der Konferenz "The Cult of the Feline", die im Spätherbst 1970 stattfand, debattierten erneut die Teilnehmer angeregt über den mittelamerikanischen Werjaguar. David Grove gab kund, dass pure Jaguare sehr selten dargestellt wurden und dann die angeblichen Jaguarmerkmale menschlicher Figuren rein hypothetisch seien. Die Entwicklung vom Werjaguargesicht zum Brillenaugen-Regengott der Klassik und Nachklassik, wie sie Covarrubias vorgeschlagen hatte, hielt er für zweifelhaft. Ein Fehler, wie wir heute wissen. Schon auf der Konferenz widersprach Georg Kubler der Aussage Groves und behauptete, dass die Augenpartie des olmekischen Werjaguars sehr wohl ein Vorläufer sei der späteren Augenumrandung des Regengottes.
Unterdessen hatte Peter Joralemon eine gründliche Analyse olmekischer Motive unternommen, deren Ergebnisse er 1972 vorlegte. Für seine Studien hatte er alle erreichbaren Objekte in privaten und öffentlichen Sammlungen inspiziert und dann 175 individuelle Motive isoliert, die er jedoch in zehn Hauptgruppen aufteilte, von denen sie nur Varianten waren. Seiner Meinung nach repräsentierten sich hier zehn olmekische Gottheiten: darunter die Gefiederte Schlange, der Rest: Varianten des Werjaguars. Er war der erste, der sich fragte, ob die Figur in El Baul - unser "Astronaut" - eine frühe Form des späteren Regengottes darstelle. Als Gott interpretierte man übrigens nicht nur zu Joralemons Zeiten alles, was gleichzeitig menschliche und nichtmenschliche Merkmale aufweist, wobei jeder Archäologe wohl in Erklärungsnot geraten müsste bei der Frage: Was ist ein Gott? Joralemon korrigierte sich später und schlug statt des Begriffes "Gott" den Begriff "Muster bestimmter Merkmale" vor.
Eine Überraschung brachte die Analyse des angeblichen Kopulations-Monuments von Rio Chiquito, die William Clewlow durchführte. Er bezweifelte die bisherige Deutung der Szene und meinte, es sei nicht einmal klar, ob die untere Figur weiblich ist. Diese Szene stelle keine sexuelle Pose dar, sondern zeige einen Sieger, der sich über die besiegte Person beuge. Und genau das sehe man auch auf den wenigen weiteren Kopulations-Monumenten, die an anderen Orten gefunden worden waren. Dieser Sichtweise schlossen sich bald weitere Altamerikanisten an, peinlich berührt musste man nun bei näherem Hinsehen zugeben, dass man da wohl etwas gesehen hatte, was gar nicht zu sehen war.
Bis heute streiten sich die Archäologen darum, was das Vorbild gewesen sein könnte für den Werjagur und den späteren Regengott und warum beide so viele gleiche Merkmale aufweisen. Lebten die Vorbilder für diese Motive nur in den Köpfen der damaligen Menschen? Waren Jaguarmensch, Regengott und auch Maisgott nur Varianten eines gemeinsamen Basismotivs aus der Zeit ab dem rätselhaften und plötzlichen Kultursprung der Olmeken? Doch welches Basismotiv könnte das gewesen sein?
Kopf einer Figurine aus Tlatilco, Zeichnung: Covarrubias

Laut Covarrubias stellte eine in Tlatilco gefundene Figurine den Urtyp des Werjaguar-Motivs dar. Der erhaltene Kopf trägt einen ihn umschliessenden Helm, und das einzige, das an einen Jaguar denken liesse, sind die fangähnlichen Details vor der Mundöffnung.
Eine etwa aus der gleichen Zeit - ca. 1200 v.Chr. - stammende Keramikmaske aus Las Bocas zeigt eine Art leeren Helm, dessen unverständliche Details die Olmeken offenbar jaguarartig darstellten. Der zeitgleiche steinerne Kopf aus Laguna de Los Cerros zeigt nach Meinung der Ausgräber einen Kopf mit Jaguarmaske, doch das Jaguarartige dieses Monumentes mag auch hier lediglich auf einer falschen Interpretation beruhen - entweder erst der modernen Ausgräbr oder bereits schon der des damaligen Künstlers.
Keramikmaske der Olmeken aus Las Bocas
Steinerner Kopf aus Lagua de los Cerros
Monument 10 aus San Lorenzo zeigt den typischen zeitlich frühen "Werjaguar": eine Person, die einen Helm mit Spalte trägt und deren "Mund" in der Tat an ein Jaguarmaul denken lässt. Es ist jedoch naheliegend, sich zu fragen, ob dieses "Jaguarmaul" nicht viel eher der Teil eines kopfumschliessenden Helmes ist.
Monument 10 aus San Lorenzo
Unter den Funden aus der ersten Zeit der Olmeken nach dem Kultursprung gibt es zahlreiche derartige Monumente und Figurinen. Das Motiv muss also sehr wichtig gewesen sein.
Um 900 v.Chr. begann in Mittelamerika eine zweite Phase olmekischer Kultur, die wiederum mit dem Erbauen geometrisch-astronomischer Stätten und Anlagen einherging und die das Motiv des Werjaguars weiterführte. In La Venta und zeitgleichen Stätten finden sich zahlreiche Beispiele für solche Darstellungen. Auffallend ist der Fakt, dass etliche dieser "Werjaguare" in einem Zusammenhang mit offenbar fliegenden Personen dargestellt wurden oder selbst zu fliegen, zu schweben oder vom Himmel herabzuturnen scheinen.
Stele aus Izapa mit einem kopfüber herabkommenden "Werjaguar"
Am bekanntesten sind wohl die "Fliegenden Olmeken" aus Chalcatzingo (die ich vorhin schön erwähnte), ausgetattet mit den typischen Helmen und der ebenso typischen Standardausstattung in den Händen.
Am mysteriösesten sind die Werjaguare - oder sollte man besser sagen: die behelmten Personen? -, die eine Art "Monstermaul", wie es die Ausgräber bezeichnen, bemannen. Da gibt es einmal helmtragende Wesen, die in einem schreibtischförmigen "Maul" sitzen; die Ausgräbr tauften diese Gegenstände "Altar" und "Thron", doch niemand weiss, was sie darstellen sollen.
"Altar" aus La Venta
Monumente mit dieser Szene gibt es ab Beginn der olmekischen Kultur. In San Lorenzo und La Venta findet man zahlreiche Beispiele. Diese Szene wurde auch als Felsrelief dargestellt. In Chalcatzingo handelt es sich um das als "El Rey" bekannt gewordene Monument.


Chalcatzingo-Felsrelief "El Rey"
Da sieht man eine behelmte Person, die in etwas sitzt, das die Archäologen umschreiben als stilisiertes Monstermaul im Profil, umgeben von Regenwolken. Das, was aus dem "Maul" herauskommt, sollen Symbole für Geräusche sein, was ja gar nicht abwegig ist, wenn man davon ausgeht, dass die Wolken andeuten sollen, dass sich die behelmte Figur mit diesem "Ding" im oder am Himmel bewegt. Ein ganz ähnliches Felsrelief von Chalcatzingo umschrieb David Grove als "eine supernaturale Person, sitzend im kleeblattartigen Maul einer supernaturalen Kreatur". So kann man es natürlich auch umschreiben! Andere Interpretationsversuche reden von Personen, die in einer Feuerschlange sitzen.
So wie die behelmte Person mit Atemsymbol vor der Nase, die auf Monument 19 aus La Venta innerhalb einer stilisierten Schlange dargestellt ist. Der Helm in dieser Szene wirkt wie hochgeklappt - das nach oben geklappte "Jaguarmaul"? Ein auf einer Schlange reitender Schamane, wie spekuliert wurde? Nein, all diese "Monstermäuler", die es auch isoliert - also sozusagen ohne Besatzung - gibt, müssen einen grossen Gegenstand meinen, der mit behelmten Personen bemannt wurde bzw. in den man hineingehen konnte.
Monument 19 in La Venta
Etwas später als die olmekische La Venta-Zeit tauchen in zapotekischen Stätten die ersten Regengötter auf, die jedoch nichts weiter sind als die zapotekische Variante des olmekischen Werjaguars. Der Helm ist ebenso vorhanden, wie die rätselhaften Ohrscheiben, und aus dem "flammenden Augenbrauen" sind offenbar nun die Brillenaugen geworden, die für die Archäologen automatisch als Merkmal des Regengottes gelten. Auch hier müssten diese Fachleute eigentlich in Erklärungsnot kommen, wenn man fragt: Was ist denn ein Regengott - und wozu sollte der einen Helm und eine Brille benötigen?
Es ist komisch, dass man hierzu so wenige Erklärungsvorschläge findet. Der "Regengott" ist, das muss ganz klar gesagt werden, eine reine Phantasiebezeichnung der modernen Archäologen, wobei offenbar die wasserwellenähnlichen Markierungen am Kopfband oder Helm der Personen die einzigen Merkmale sind, die in irgendeiner Form auf Regen hinzudeuten scheinen. Regengötter, die auf Darstellungen Gefässe halten, aus denen etwas - Regen? - herausfliesst, stammen erst aus viel späteren Zeiten, und auch hier gilt, dass diese Interpretation nur eine moderne ist.
Monument aus Monte Alban
Die zapotekischen Regengott-Darstellungen sind nichts weiter als immer noch die gleichen Personen mit Helm und unidentifizierbaren Details daran und bei der Ausstattung. Eines der Monumente, gefunden in Monte Alban, sieht aus wie eine Person in einem körperumschliessenden Anzug mit aufgeklapptem Helm und wirkt wie ein Kollege des "Astronauten" von El Baul.
In El Baul, einer Stätte, die um ca. 350 v.Chr. blühte, gibt es nicht nur die berühmte "Figur mit dem Raumfahrerhelm", sondern auch mehrere Beispiele für "bemannte" und "unbemannte Monstermäuler". Der "Astronaut" aber ist nichts weiter als die El Baul-Variante des olmekischen Basismotivs.
Auch in der folgenden Zeit ab ca. 300 v.Chr. wurden allerorten noch immer diese Werjaguare dargestellt, und dies nicht nur an olmekischen, sondern auch an sehr frühen Mayastätten. Darstellungen, die einen Gegenstand aus der Helmspalte ragen haben, werden durch die Bank weg als Maisgott gedeutet, doch nur, weil dieser Gegenstand in vielen Fällen von der Form her einem Maiskolben ähnelt. Die Figuren dieser Zeit tragen noch immer Helme - mit und ohne Spalt - und das obligatorische Atemsymbol vor der Nase. Warum die Archäologen mal von einem Werjaguar und mal von einem Regengott sprechen, ist nicht nachzuvollziehen. Und noch immer gibt es zu dieser Zeit die bemannten Monstermäuler, in Tres Zapotes auf einer der Stelen gleich mit drei Besatzungsmitgliedern ausgestattet.
Etwas unklar ist der Zusammenhang zwischen dem Werjaguar-Motiv und der Ikonographie von Teotihuacan, dem neuen kulturellen Zentrum ca. 1200 Jahre nach Beginn der Olmeken-Kultur. Hier erscheint nun auf einmal das Jaguar-Motiv kombiniert mit Vogel- und Schlangenmerkmalen. Karl Taube spekulierte, ob die Teotihuacanos vielleicht den olmekischen Werjaguar mit der Gefiederten Schlange in einen Topf warfen. Vielleicht wussen sie jedoch, dass beide Motive zusammengehören?
Ab dem Jahr 150 n.Chr. finden wir den Werjaguar / Regengott in Monte Alban und in anderen Stätten zwar immer noch mit den typischen Merkmalen, jetzt jedoch vollkommen übertrieben dargestellt. Die Ausgräber reden von symbolischem Kopfschmuck und bei schlauchartigen Elementen an Masken oder Helm von Schlangenzungen. Vor lauter phantastischen Ausschmückungen kann man die einstige Kopfspalte des Werjaguars kaum noch erkennen, doch sie ist immer noch in vielen Beispielen vorhanden.
Es ist die Zeit, in der die Maya beginnen, ihre Gebäude mit riesigen Monstermaul-Stuckmasken auszustatten. Herrscher auf Stelen tragen phantastische Kopfaufbauten und stehen oftmals auf dem uralten "Monstermaul". Etwas später tragen vom Himmel herabsteigende Götter in Chichen Itza übergrosse Helme mit schlauchartigen Anhängseln und vor der Nase das anscheinend so wichtige Atemsymbol.


Köpfe mit Atemsymbolen aus verschiedenen Epochen, Zeichnung: Covarrubias
Es ist schon witzig: während die Kopfaufbauten immer bizarrer und grösser wurden, vereinfachte sich das Atemsymbol zu einem schlichten Zeichen, oft einfach nur durch einen winzigen Kreis vor der Nase angedeutet. Dabei muss gerade dies Detail immens wichtig gewesen sein.
Während der Maya-Klassik ab ca. 900 bleiben ein Helm und das Atemsymbol Standard vieler Figuren. Aus der Figur mit Spalte im Helm / Kopf, woraus etwas hervorschaut, ist nach Meinung von Covarrubias nun der Maisgott geworden.
Detail der Stele 19, Seibal
Die angebliche Jaguarschnauze gibt es nicht erst seit dieser Zeit auch in der Variante als "Entenschnabelmaske" und die noch spätere Windmaske des Sky Lord Neun Wind oder Quetzalcoatl. Helme bedecken oder umschliessen noch immer Köpfe abgebildeter Personen, man findet noch immer, wenn auch selten, das gute alte trapezoide Jaguarmaul und auch rüssel- oder schlauchartige Details, z.B. als Mayagott mit "Tapirnase" oder "Langlippengott". Aus den schlauchartigen Details an Gesicht oder Helm des Werjaguars sind nun z.B. "Barthaare des Regengottes" oder die "zerfaserte Nase des Wassergottes" und ähnlicher moderner Deutungs-Unsinn geworden.
Noch immer streiten sich die Fachleute darüber, was das Vorbild gewesen sein mag für Werjaguar und Regengott. Man muss dieses Motiv im Gesamtkontext betrachten. Da haben wir zum einen den plötzlichen Kultursprung der Steinzeitbauern zur Hochkultur, der ohne Kulturbringer mit Kenntnissen in Astronomie, Vermessungs- und Ingenieurtechnik u.v.a. nicht denkbar ist und auch nicht ohne Planung und Kontrolle; zum anderen haben wir den gleichzeitigen Beginn eines Motivs, das behelmte und mit rätselhaften Gegenständen ausgestattete Wesen oder Personen zeigt, oftmals in Zusammenhang mit Himmelssymbolik, was ohne reale Vorbilder nur schlecht denkbar ist.

Behelmte Personen, Detail einer Vase der Maya-Klassik
Bis in die Zeit der Eroberung Mexikos hinein wurden Personen bzw Götter dargestellt, die anscheinend vom Himmel herab kamen, ausgestattet mit Helmen oder "Windmasken" und diversen Ausstattungsgegegständen.
Sky Lord 9 Wind mit Windmaske steigt vom Himmel herab: Szene aus dem Codex Vindobonensis, ca. 1360 entstanden
So gesehen wäre der berühmte "Astronaut von El Baul" eher ein himmlischer Kulturbringer, als ein Werjaguar oder Regengott, und das gilt auch für alle anderen derartigen Figuren.



















Montag, 12. Januar 2009

Fat Boys

Gisela Ermel

Rätselhafte Monumente der Olmeken und Maya

In: Q'Phaze, Nr. 8, Kassel 2007



Die prähistorische Vergangenheit Mittelamerikas weist viele noch ungelöste Rätsel auf und bietet Material für verschiedenste Spekulationen und Hypothesen. Eines dieser Rätsel bilden die sogenannten Fat Boys. Es handelt sich um riesige Monumentalskulpturen mit seltsamen magnetischen Eigenschaften, die aus Basaltfelsblöcken hergestellt wurden. Gefunden wurden diese Skulpturen an Stätten wie Monte Alto, El Baúl, Chocola und Abaj Takalik - allesamt sehr frühe olmekische Orte nahe der Pazifikküste Guatemalas.

In den 1940er Jahren gruben Archäologen und ihre Helfer in der Ausgrabungsstätte Monte Alto und den nahegelegenen Regionen von La Democracia und El Baúl merkwürdige Steinmonumente aus. Es waren große abgerundete Felsblöcke, meist von ca. 1,5 m Durchmesser, die zu Köpfen oder runden Körpern verarbeitet worden waren. Die Gesichter wirkten wie aufgedunsen, die Körper korpulent, um es vorsichtig auszudrücken. Die Archäologen sprachen schon bald von "Fat Boys" oder auch von "Potbellies" (Dickbäuchen). Die Köpfe schienen sich zu ähneln, individuelle Züge wie bei den berühmten Kolossalköpfen der Olmeken schien es jedoch nicht zu geben. Die Körpermonumente hatten die Arme um den feisten Wanst geschlungen, so dass die Finger der Hände sich fast berühren. Beine und Füsse waren ähnlich dargestellt. Geschlechtsmerkmale waren nicht zu erkennen. Die Künstler hatten die Felsblöcke nur minimal bearbeitet, alles wirkte sehr rudimentär.

Was sollten diese Monumente darstellen? Man hatte keine Ahnung. Herrscher? Waren die lebenden Vorbilder fett gewesen? Hatte Fettheit als Schönheitsideal gegolten? Oder waren die Bildhauer nur zu faul gewesen, mehr Material abzutragen? What ever - hier hatte man wahrlich komische Burschen ans Tageslicht befördert. Man ahnte noch nicht, dass diese Fat Boys ein Geheimnis in sich bargen, das diese Monumente noch rätselhafter machte.



Einer der Fat Boys, gefunden in Monte Alto



Fat Boy in Kopfform - ebenfalls gefunden in Monte Alto


1979 entdeckte ein Student, der dem Archäoastronomen Vincent Malmström assistierte, nahe Monte Alto durch puren Zufall die magnetischen Eigenschaften von einem der Fat Boys, da er während seiner Arbeit einen Kompass um den Hals trug. Jedesmal, wenn er den Kompass einer bestimmten Stelle des Monuments näherte, wurde die Nadel abgelenkt. Schon einige Jahre zuvor hatte Malmström in Izapa magnetische Eigenschaften an einem Monument in Form eines Schildkrötenkopfes entdeckt - ebenfalls durch Zufall - und über mittelamerikanische Kenntnisse über Magnetismus spekuliert.

Im selben Jahr entdeckten Malmström und seine Studenten ein weiteres Monument mit magnetischen Eigenschaften im nahen El Baúl. Das Monument zeigte zwei Männer, die im Schneidersitz auf einer Bank sitzen, die Arme vor der Brust gekreuzt. Beide Männer wiesen magnetische Pole auf an den Stellen, wo sich die Arme kreuzten, während sich unter der Bank die beiden Gegenpole befanden. Die Entdeckung des "magnetischen Fat Boy" und dieser Skulptur sorgte für große Überraschung in der Fachwelt und Presserummel, vor allem, als sich herausstellte, auf wie uralt die Fat Boys geschätzt wurden. Das TIME Magazin brachte am 3. September 1979 den Artikel "Fat Boys: A Pre-Columbian Mystery" heraus, gekrönt von der Schlagzeile: "Fat Boys 4000 Years Old!"

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die meisten Fat Boys magnetische Eigenschaften aufweisen. Dazu wurde jedoch kein magnetisches Material hinzugefügt, sondern die Monumente haben an diesen Stellen in sich magnetisches Material, wahrscheinlich Einschlüsse von Magnetit oder anderem Eisenerz, aussen am Gestein ist jedoch nichts davon zu sehen. Diese Stellen an den Monumenten sind stark genug, um eine Kompassnadel zu bewegen. Sie weisen zwei entgegengesetzte Pole auf, beide Stellen meist etwa zehn Zentimeter voneinander entfernt. Befindet sich an diesen Stellen jeweils ein u-förmiges Magnetfeld im Innern des Gesteins? Das sensationellste jedoch an diesen Fat Boys ist die Tatsache, dass diese magnetischen Pole bewusst oder absichtlich gut platziert in die Monumente integriert wurden. Bei den Köpfen trägt die rechte Schläfe einen magnetischen Pol, die Kraftfeldlinie betritt hier den Kopf direkt über dem Ohr und kommt als Gegenpol unter dem Ohr wieder heraus. Bei den Körpern liegen die beiden entgegengesetzten Pole stets links und rechts neben dem Bauchnabel. Eine Ausnahme bilden Skulpturen wie die beiden sitzenden Männer von El Baúl. El Baúl bietet noch einen steinernen aufgerichteten Jaguar, der an beiden Pranken magnetische Pole aufweist, aber keine Gegenpole.



Jaguar aus El Baúl mit magnetischen Eigenschaften


Warum wählten die Hersteller der Fat Boys just diese Stellen am Ohr oder am Nabel? Niemand hat eine Ahnung. Ein Zufall ist jedoch so gut wie ausgeschlossen. Viele Archäologen debattieren nun darüber, ob den Künstlern überhaupt bewusst gewesen sei, dass hier Magnetismus herrscht. Wie konnten die Steinzeitmenschen über das Wissen stolpern, dass in den Basaltfelsblöcken magnetisches Eisenerz enthalten ist? Bemerkte zufällig ein Steinbearbeiter, wie leichte Staubpartikel während des Bearbeitens des Felsblockes von einer bestimmten Stelle angezogen bzw. abgestossen wurden? So möchten es sich gerne etliche Archäologen vorstellen. Viel eher war es jedoch so, dass diese Felsblöcke bewusst ausgewählt und so bearbeitet wurden, dass die magnetischen Pole des eingeschlossenen Eisenerzes an die vorausgeplanten Stellen zu liegen kamen. Doch wie fanden die Hersteller die richtigen Felsblöcke? Die magnetischen Stellen waren von aussen ja nicht erkennbar. Und warum wurden überhaupt diese mit Plus- und Minus-Pol ausgestatteten Fat Boys und Potbellies hergestellt?

Inzwischen wurden weitere magnetische Fat Boys gefunden in El Salvador, Hueyapan de Trimendes, Tuxtla Chica nahe Izapa, Kaminaljuyu, Santa Leticia, Seibal und Tres Zapotes. Die weitaus meisten Monumente stammen jedoch aus der Pazifikküstenregion von Monte Alto, El Baúl und La Democracia. Heute stehen vor dem Museum von La Democracia elf Fat Boys, arrangiert in zwei Reihen entlang des Vorplatzes, während ein zwölfter neben dem Eingang des Gebäudes steht.

Fat Boy aus Abaj Takalik


Fat Boy vor dem Museum in La Democracia

Die Datierung dieser Monumente ist schwierig, da die Objekte offenbar mehrmals den Standort wechselten. Einige Archäologen vermuten, dass die ersten Fat Boys schon aus der Zeit San Lorenzos stammen, wo ca. 1200 v. Chr. ein abrupter Kultursprung stattfand vom Steinzeitbauern zur Hochkultur. (s. dazu meinen Artikel "Das Rätsel von San Lorenzo"). Das Alter der Fat Boys steht noch nicht genau fest.

Laut Lehrbuch kannten die Griechen ab dem 5. Jh. v.Chr. den Magnetismus, und ein chinesisches Manuskript von 121 v.Chr. spricht von einem "Stein, der eine Nadel in eine andere Richtung lenken kann". Kannten die Olmeken schon lange vorher die magnetischen Eigenschaften von Eisenerz? Benutzten sie eventuell kompassartige Hilfsmittel beim Bau der Städte und ihrer Lokalisation? Oder war das Wissen um Magnetismus und dessen praktische Anwendung im Bauwesen Teil der Kenntnisse, die unbekannte Masterplaner den Steinzeitbauern vermittelten, als der Kultursprung stattfand? Ein kompassartiges Hilfsmittel wäre bei all dem, was nach dem Kultursprung in Mittelamerika auf die Beine gestellt wurde, enorm hilfreich gewesen.

Für die frühe und plötzlich wie aus dem Nichts aufgekommene Kultur der Olmeken ebenso wie für die etwas späteren Kulturen der Maya und viel späteren Teotihuacanos war ein Aspekt von ganz besonderer Bedeutung: die Astronomie. Wie wichtig dieser Aspekt war, fangen die Fachleute gerade erst an zu begreifen. Einige Archäologen vermuten, dass ein astronomisches Beziehungsgeflecht alle olmekischen Stätten sowohl als auch die der Maya und späteren Teotihuacanos zu einem miteinander verbundenen Ganzen umfasst. Dieses astronomische Muster besteht aus Linien, die sich nach den kardinalen Richtungen oder nach bestimmten Sonnendaten richten. Linien, auf denen mehrere Städte liegen, führen auf einen Punkt am Horizont hin, an dem zu einem der Sonnwend- oder Equinox-Daten die Sonne auf- oder unterging.

Erstaunlicherweise wurden die Städte, die auf solchen Linien miteinander quasi unsichtbar verbunden sind, nicht in denselben Zeitepochen erbaut. Verband ein Langzeitplan mehrere Völker und mehrere Zeiten miteinander? Wer aber sollte einen solchen Gesamtplan entworfen und überwacht haben? Offenbar wurde noch Tenochtitlan, die letzte große Stadt Mittelamerikas vor der Eroberung durch die Spanier, diesem Plan entsprechend lokalisiert und erbaut. Mysteriöserweise wurden die Azteken von einem sprechenden "Heiligen Bündel" über zweihundert Jahre lang kreuz und quer durch Mexiko geführt, bevor sie dann nach genauer göttlicher Anweisung an von ihrem Gott Huitzilopochtli festgelegtem Ort die Stadt Tenochtitlan gründeten und erbauten. (s. dazu meinen Vortrag "Das Heilige Bündel") Offenbar ist auch Tenochtitlan durch astronomische Linien mit uralten Orten verbunden, unsichtbaren Linien, die erst unsere moderne Archäoastronomie beginnt, sichtbar zu machen.

Im alten Mittelamerika wurde offenbar nichts dem Zufall überlassen. Für den Bau der Städte - beginnend mit San Lorenzo um ca. 1200 v.Chr. - mit ihrem Reissbrett-Layout, den astronomisch ausgerichteten Bauwerken, Monumenten und Hauptachsen waren nicht nur die Kenntnisse nötig für das Erbauen all der Plattformen, Pyramiden und Gebäude, sondern auch Kenntnisse in Mathematik, Astronomie, Geometrie, Trigonometrie, Geographie, Kartographie und vieler anderer Wissensgebiete, ganz abgesehen von der nötigen Logistik, Planung, Organisation und Kontrolle. Hatte man damals einfache Vermessungsinstrumente? Oder benutzte man eine primitive Form des Kompass? Oder überliess man das Vermessen den unbekannten Masterplanern, ohne die der Kultursprung vom Steinzeitbauern zur Hochkultur der Olmeken gar nicht denkbar ist?

Die Archäologen P. Krotser und Michael Coe fanden in San Lorenzo einen stabförmigen Gegenstand aus poliertem Eisenerz von 2,5 cm Länge. Dies Artefakt "M 160" wurde, so ergaben eingehende Untersuchungen, um ca. 1000 v.Chr. hergestellt. Michael Coe vermutet, es könne sich um einen primitiven Stabmagneten handeln. Bisher galt die Annahme, dass im alten Mittelamerika kein zweckdienlicher Gebrauch des Magnetismus bekannt gewesen sei. Man traute den Menschen der damaligen Zeit das Wissen um das Magnetfeld der Erde nicht zu. Oder sollten die Olmeken Magnetismus zwar gekannt, ihn aber nur als rätselhafte übernatürliche Kraft angesehen haben? Gegen diese Annahme spricht meiner Ansicht nach die ausgefeilte und komplizierte Astronomie-Architektur sowie das vermutete astronomische und kardinale Liniennetz eines Langzeitplans.

Wie die Fat Boys hier hineinpassen, ist noch völlig unklar. Dass sie gerade in Städten wie El Baúl vorkommen, wo das berühmte Monument 27 - die "Figur mit dem Raumfahrerhelm" - gefunden wurde, lässt vermuten, dass in der Vergangenheit Mittelamerikas Dinge geschahen, die die etablierte Archäologie noch nicht in Erwägung gezogen hat. Ein Kontakt zwischen Steinzeitmenschen und ihnen kulturell und technologisch überlegenen Besuchern? Die Ikonographie Mittelamerikas bietet zu diesem Szenario zahlreiche weitere Hinweise: Götter in Vogelverkleidung, Personen in den Rachen Fliegender Schlangen, vom Himmel herniederkommende Götter, Personen mit unnormal langen Schädeln und vieles mehr.

Monument 27 in El Baúl - der berühmte "Astronaut"

Literatur:


Carlson, J. B.: Lodestone Compass: Chinese or Olmec Primacy? In: Science, Vol. 189, Nr. 4205, 1975


Coe, Michael / Richard Diehl: In the Land of the Olmec. Austin, Texas, 1980


Coe, Michael: San Lorenzo and the Olmec Civilization. Washington, D.C., 1970


Ermel, Gisela: Das Heilige Bündel der Azteken. Gross-Gerau 2007


Fuson, R. H.: The Orientation of Mayan Ceremonial Center. Annals of the Association of American Geographers, Nr. 59, 1969


Malmström, Vincent H.: Knowledge of Magnetism in Pre-Columbian Mesoamerica. In: Nature, Vol. 259, Nr. 5542, Februar 1976


Malmström, Vincent H.: Land of the Fifth Sun: Mexico in Space and Time. Hannover, New Hampshire 2002


Malmström, Vincent H. / Paul A. Dunn: Pre-Columbian Magnetic Sculptures in Western Guatemala. www.dartmouth.edu/~izapa/M-11pdf


Morante, Ruben: Los alineamientos magicos de las piramides mesoamericanas. Jalapa 1986


Nowotny, Karl A.: Tlacuilolli. Monumenta Americana II, Berlin 1961


Palmeros, Rafael A.: The Magical Alignments of the Mexican Pyramides. www.geocities.com/NEXPLICATA2000/issue4/1.htm


Parsons, Lee A.: Excavation of Monte Alto, National Geographic Society Research Reports: 1968 Projects. Escuintla 1976


Shook, Edwin M. / Marion Popenoe de Hatch: Archaeological Study of Monte Alto, Guatemala, and Preclassic Cultures on the Pacific Coast, 1972-77. National Geographic Society Research Reports 13, Escuintla 1981


Taube, Karl A.: Olmec Art at Dumbarton Oaks. Washington, D.C., 2004


The Fat Boys: A Precolumbian Mystery. TIME- Magazine, 3. September 1979




Mehr zum Thema:


Gisela Ermel:

Das Heilige Bündel der Azteken.

Kultursprung, Masterplan und Götterstimmen: Mittelamerikas rätselhafte Vergangenheit.

Ancient Mail Verlag, Gross-Gerau 2007

ISBN 978-3-935910-57-6

272 Seiten, zahlreiche Abbildungen







Sonntag, 11. Januar 2009

Das bemannte Monster

Gisela Ermel
Rätselhaftes Motiv in Mittelamerika
In: Q'Phase, Nr. 12, Kassel 2008

Die Ikonographie Mesoamerikas bietet noch immer eine ganze Reihe von Motiven, um deren Bedeutung und Sinn bis heute in der Fachwelt gerätselt und heftig debattiert wird. Eines dieser Motive ist das, was die Archäologen u.a. als Monstermaul bezeichnen. Das Motiv kommt in zwei Varianten vor: einmal mit einer Person im Innern, aber auch allein ohne eine Person. Es ist eines der für die Paläo-SETI-Forschung interessantesten Ikonographiemotive, wenn man es mit modernen und unvoreingenommenen Augen betrachtet. Es wurde über 2700 Jahre hinweg immer wieder dargestellt auf Keramik, auf Wandgemälden, in Bilderhandschriften, es wurde in Stein gehauen und als Architekturdetail in Bauwerke integriert.
Der erste Forscher, der auf dieses spezielle Motiv aufmerksam machte, war der Archäologe Matthew Stirling, der in den 1940er Jahren in der Olmekenstätte La Venta ausgrub. Er fand eine Steinstele, die eine Person zeigt, anscheinend im offenen Maul eines Jaguars stehend. Immer wieder wurden in den folgenden Jahren weitere Beispiele für dies rätselhafte Motiv entdeckt. Auf der Konferenz für Präkolumbische Ikonographie - "The Cult of the Feline" -, die im Oktober 1970 abgehalten wurde, behauptete Georg Kubler, ein Wissenschaftler von der Yale University, dass dies Motiv, das sowohl Merkmale eines Jaguars oder einer Schlange als auch eine Kombination aus beidem aufweisen kann, ganz sicher olmekischen Ursprungs sei und somit in die früheste Zeit der mittelamerikanischen Kulturen zurückgehe.
1987 schrieb David Grove seine Arbeit über die olmekische Stätte Chalcatzingo. Auch hier gab es mehrere Beispiele dieses von etlichen Forschern inzwischen so genannten "Jaguarmauls", unter anderem als begehbares Steinmonument, aber auch als Relief an einer Felswand, eine Person zeigend, die in so einem "Monstermaul" sitzt. Grove beschrieb das Felsrelief als "hoch stilisiert und jenseits jeglicher Identifizierbarkeit".
Kann man diesem außergewöhnlichen Motiv aus präastronautischer Sicht näher kommen? Ein Versuch lohnt sich.
Kultur, wie wir sie verstehen, begann in Mittelamerika mit einem Paukenschlag um das Jahr 1200 v.Chr., als Steinzeitbauern einen plötzlichen Kultursprung machten. (Siehe dazu auch meinen Artikel "Das Rätsel von San Lorenzo") Sie begannen praktisch von einem Tag auf den anderen damit, wie am Reissbrett entworfene Anlagen und Städte auf der Basis eines astronomisch-geometrischen Layouts zu erbauen, ohne zuvor die dazu nötigen Zwischen- und Entwicklungsstufen zu durchlaufen. Gleichzeitig fingen sie an, Dinge darzustellen, die phantastische und - nach unserer heutigen Interpretation - unrealistische Elemente enthielten. In der auf den Kultursprung folgenden Zeit wurden die Abbildungen von Wesen und Figuren, die biologisch unmöglich sind, zu den Lieblingsmotiven der Olmeken. Personen, die aussehen wie eine Mischung aus Mensch und Jaguar oder aus Vogel und Mensch, geflügelte schlangenartige Objekte sowie eben das angebliche Monstermaul. Auffallenderweise tragen just die Personen, die in so einem "Monstermaul" sitzen oder stehen, nichtmenschliche Merkmale und fast immer eine Art Helm.
Ein solches "Monstermaul" stellen, stark stilisiert, die sog. Altäre oder Throne dar, von denen bis heute kein Archäologe weiss, was diese riesigen Steinklötze eigentlich sein sollen. Sie ähneln von der Form her in den typischen Beispielen ein klein wenig heutigen aber hinten geschlossenen Schreibtischen, und meist sitzt unter der Deckplatte wie in einer Nische eine behelmte Person. Der Bereich um die Nische herum ist ganz deutlich als stilisiertes "Maul" dargestellt, so jedenfalls interpretieren es fast alle Ausgräber olmekischer Stätten.






Altar 4 in La Venta:
Über der Person in der Nische
das sog. "Monstermaul"



Ein typisches Beispiel hierfür ist der Altar 4 in La Venta. La Venta ist die wichtigste Stätte einer zeitlich gesehen zweiten Phase der olmekischen Kultur, die - nach dem plötzlichen und unerklärlichen Ende von San Lorenzo - um ca. 900 v.Chr. begann. Man sieht in einer Nische unter dem "stilisierten Jaguarmonstermaul" (so David Grove) eine Person sitzen mit einer helmartigen Kopfbedeckung, einem Cape und einem Gegenstand auf der Brust. Das Gesicht der Person ist nicht mehr zu erkennen, da es von den Olmeken selbst absichtlich beschädigt wurde. Das gleiche Motiv weisen noch weitere "Altäre" in La Venta auf. Schon in San Lorenzo, in der ersten Phase der Olmekenkultur, wurde solch ein Steinmonument hergestellt mit demselben Motiv.






Monument 19 aus La Venta













Monument 19 in La Venta zeigt das Motiv "Person in Monster" auf eine etwas andere Weise, doch sind sich die Archäologen inzwischen ziemlich einig darin, dass hier dennoch das gleiche Grundmotiv gemeint war. Diesmal sitzt eine Person in etwas, das als "Schlange" dargestellt bzw. interpretiert wurde. Die Person trägt einen komplizierten, den Kopf umschliessenden und das Gesicht freilassenden Helm, vor der Nase ein typisches Atemsymbol, das seit dem plötzlichen Beginn der Olmekenkultur zur Grundausstattung aller sog. Jaguarmenschen - durch die Bank weg behelmt - gehörte. Die Ausgräber haben keine Ahnung, was diese Darstellung bedeuten soll und spekulieren über einen "auf einer Schlange reitenden Schamanen", obwohl doch klar ersichtlich ist, dass diese Person eher in als auf einer "Schlange" sitzt. Die Schlange, so wird weiter spekuliert, könne auch eine "Feuerschlange" sein. Das Steinmonument stand einst in der Nähe von drei Kolossalköpfen und war mit seinem Stellplatz ebenso wie diese und andere Monumente Teil des astronomisch-geometrischen Stadtlayouts.


Monument 1 in Chalcaztingo:
"El Rey"

Eine ganz ähnliche Darstellung gibt es in Chalcatzingo, dem olmekischen Aussenposten in Morelos, zeitgleich mit La Venta. Es handelt sich um das als "El Rey" bekannt gewordenen Monument 1, ein hoch auf dem Berg hinter der Stätte an einer Felswand angebrachtes Relief. Da sitzt eine Person in einem, wie etliche Ausgräber meinen, "im Profil gesehenen Jaguarmaul", trägt einen komplizierten Kopfputz, eine "Jaguarmaske" und hält einen unidentifizierbaren Gegenstand in der Hand. Was mag hier abgebildet worden sein? Die Archäologen sind ratlos und debattieren darüber, ob hier eine Person in einer Höhle sitze oder auf einer Wolke oder in einem Objekt, das sich im Himmel befinde wegen der Wolken um es herum. Kent Reilly III. fragte sich bereits 1968, ob hier eine Person dargestellt sei, die im Himmel sitze oder auf einer Wolke. Uneinig ist man sich auch darüber, was aus dem "Monstermaul" hervorkomme. Sprachvoluten, symbolisch für ein Geräusch? Oder sei dies ein Pflanzenmotiv in Verbindung mit einem Jaguarmaul? Das macht keinen Sinn, da klingen die herausschallenden Geräusche schon logischer. Ist hier derselbe Event dargestellt wie auf Monument 19 in La Venta?





Monument 9 in Chalcatzingo:
El Portuzuelo

Gibt es einen Zusammenhang zwischen "El Rey" und Monument 9 in Chalcatzingo, bekannt als El Portuzuelo, das Tor? Dieses Steinmonument stellt ein allein stehendes "Jaguarmaul" dar. David Grove meinte, es könne sich um die Frontansicht des Objektes handeln, in dem die El Rey-Figur sitzt. Das Monument war zur Zeit der Olmeken senkrecht aufgestellt gewesen, und es müssen oftmals Menschen durch das offene Loch gekrochen sein, so das Ergebnis der archäologischen Forschungen. Laut David Grove stand El Portuzuelo auf dem wichtigsten Plattform-Mound der - selbstverständlich ebenfalls nach astronomisch-geometrischem Layout erbauten - Stadt. Niemand weiss, was das Monument darstellt. Einen künstlichen Höhleneingang? Einen Eingang in die Götterwelt? Oder in die Unterwelt? Ein begehbares Erdmonster? Oder den Eingang in ein "Monstermaul"? Und damit den Eingang in ein Objekt, mit dem man sich "im Himmel" aufhalten bzw. mit dem man zwischen den Wolken verkehren konnte?
Chalcatzingo bietet noch weitere Beispiele dieses Motivs. Monument 13, ebenfalls ein Relief an der Felswand hinter der Stätte, zeigt eine "nichtmenschliche Person im kleeblattartigen Maul einer überirdischen Kreatur", so die Interpretation von David Grove. Auch dieses Maul erinnert an das Tor-Monument. Die Person trägt einen massiven Helm, wie ihn so viele von den Archäologen so genannte "Supernaturale" tragen. Noch interessanter ist Monument 5, ebenfalls an dieser Felswand zu finden. Hier sieht man einen "Drachen auf einem Himmelsband über Wolken" mit einer menschlichen Figur im Maul, die halb daraus hervorschaut. Spätestens bei diesem Felsbild beginnt man zu ahnen, was die Olmeken mit dieser Motivgruppe um all die bemannten und unbemannten Monstermäuler zeigen wollten: eine behelmte Person, die in etwas hineingeht oder sich in etwas befindet, das mit dem Himmel assoziiert bzw. als im Himmel befindlich vorgestellt wird. Sollte es sich hierbei um die primitive, nach dem Hören-Sagen dargestellte Version eines Flugobjektes handeln?
Dann zeigt eine Skulptur von Las Limas, die Michael Coe als den Regengott Tlaloc "inmitten einer Feuerschlange" interpretierte, das gleiche Grundmotiv. Ebenso wie ein Basrelief von Cerros de la Canteras, dessen Motiv Pina Chan als einen Mann im Maul einer Schlange beschrieb, aber im Profil gesehen. Beide Stätten sind zeitgleich mit La Venta, doch das Motiv einer Fliegenden Schlange geht ebenfalls zurück auf den Anfang der Olmeken, denn bereits eine Zeichnung auf Keramik aus Blackmann Eddy, einer Außenstelle von San Lorenzo, in der wie am Fliessband Keramik hergestellt wurde, weist bereits eine Vogelschlange auf.




Wandmalerei in der Höhle von
Oxtotitlan

Es gibt eine interessante Wandmalerei aus der La Venta-Zeit. Es handelt sich um eine Zeichnung in der Höhle von Oxtotitlan. Da sitzt eine Person, die eine Art Vogelkostüm und einen Vogelhelm trägt, auf einem Ding, das aussieht wie ein typischer Altar aus La Venta oder San Lorenzo. Die Bedeutung dieser Wandmalerei ist ebenso unbekannt wie die der sog. Altäre. Was bedeutet der Zusammenhang zwischen einem mit Vogelattributen ausgestatteten Menschen, sitzend auf etwas, das als "Monstermaul" gedeutet wurde? Noch dazu trägt der Höhleneingang von Oxtotitlan selbst eine Zeichnung, die laut David Grove ebenfalls ein "Jaguarmonstergesicht" darstellen soll - somit ein begehbares. Dass ein "Monstermaul" einfach nur einen Höhleneingang symboliserien sollte, kann ich mir schlecht vorstellen, denn das wäre in diesem Fall ja unnötig doppelt gemoppelt: ein Höhleneingang mit einem symbolischen Höhleneingang verziert. Das macht keinen Sinn.
Gehen wir ein paar hundert Jahre weiter. Die Zapoteken in Oaxaca standen schon von Anfang an - 1200 v.Chr. - mit den Olmeken in Verbindung. In San José Mogote, einer Art Werkstatt-Aussenposten von San Lorenzo, wurden schon damals Objekte aus Eisenerz wie am Fliessband hergestellt und Personen mit nichtmenschlichen Attributen abgebildet. Um das Jahr 500 v.Chr. aber war das Motiv, das Elemente von Jaguar, Vogel und Schlange miteinander zu phantasievollen Monumenten verband, ein typisches und stereotypes Zapoteken-Motiv geworden.
Etwa 350 v.Chr. - oder schon viel früher - erbauten die Olmeken eine ihrer typischen astronomisch-geometrischen Städte, diesmal nahe der Pazifikküste, bekannt als El Baúl. Hier findenwir nicht nur den berühmten "Astronauten" in Stein gehauen - für die Archäologen inzwischen ein Beispiel für einen Werjaguar (siehe meinen Vortrag "Vom Werjaguar zum Regengott") -, sondern auch die "Monstermäuler", und zwar sowohl bemannt als auch unbemannt. Monumten 34 zeigt eine Art "stilisiertes Werjaguargesicht", und dasselbe Motiv findet sich auf etlichen weiteren Monumenten der Stätte. Ein weiteres Monument zeigt eine menschliche Figur, die aus einem "Schlangerachen" herausschaut.
Möglicherweise begannen die Maya bereits um das Jahr 300 v.Chr. mit dem Bau ihrer großartigen Stuckmasken. Es handelt sich um Stuckskulpturen an Bauwerken in Form von "Jaguar"- oder "Schlangenmäulern", oft noch ausgestattet mit Jaguarklauen, Ohrschmuck, "Brillenaugen" und Glyphen. Die Archäologen sind auch hier ziemlich ratlos und reden u.a. von einer "Regengott-Monstermaul-Stuckmaske" und anderem Unsinn. Diese architektonischen Ausschmückungen sind eventuell viel älter als die späteren Pyramiden. Man findet sie in Tikal, Uaxactun und Nakbe, in Stätten, die bereits während der Zeit der Olmeken begannen. Hier wurden eventuell bereits die Monstermäuler mit der "Bemannung" (Besatzung), dem "behelmten Jaguarmenschen" vermischt.



Zwei Stelen aus Izapa, die zeigen,
wie eine behelmte Person in etwas
hineinsteigt oder aus etwas
heraussteigt, das aussieht
wie ein Schlangenmaul


In diese Zeit fallen auch Ikonographiebeispiele aus Izapa. Hier gibt es u.a. eine Stele, die ein uns nun schon geläufiges Motiv aufweist. Sie zeigt eine Person - oder einen Gott, so schlagen etliche Ausgräber vor -, die mit einem Beim aus einem Ding herausschaut, das eine Mischung aus Monstermaul und Schlange zu sein scheint. Eine andere Stele in Izapa zeigt ebenfalls eine Person in, auf oder über einem "Monster". Es gibt noch weitere derartige Szenen, bei denen Personen sich innerhalb eines "Monstermauls" befinden oder von einem solchen umrahmt werden.






Stele aus Izapa



















Stele C in Tres Zapotes

In Tres Zapotes, einer späten Olmekenstätte, sind es zur selben Zeit auf Stele C sogar drei Personen in einem Monstermaul. Die bekannteste Stele aus Tres Zapotes ist Stele C, die ein frühes Long Count-Datum trägt: 32 v.Chr. Weniger bekannt ist, dass auf dieser Stele ein "Werjaguar" mit Helm auf, in oder über einem dieser Monstermäuler dargestellt wurde.
Um die Zeitenwende waren die Motiv-Elemente in Teotihuacan zu einem kombinierten Jaguar-Vogel-Schlangen-Motiv geworden, darunter das von den Ausgräbern so benannte "Pfoten-Flügel-Motiv". Die Maya statteten um dieser Zeit weiterhin ihre Gebäude mit Monstermaul-Stuckmasken aus. Aber auch das "bemannte Monstermaul" wurde nicht vergessen. Eine Stele in Copan aus der Zeit um 250 n.Chr. zeigt einen Herrscher mit einem bombastischen Kopfschmuck (die ausgeschmückte Weiterentwicklung des einfachen kopfumschliessenden Helmes der ersten Olmekenzeit), auf einem unverkennbaren "Monstermaul" stehend.






Stele in Copan: ein Herrscher
auf einem Monstermaul stehend




Gut fünfhundert Jahre später ist dieses bizarre Motiv noch immer "en vogue". Der sogenannte Zoomorph P von Quirigua zeigt etwas, das den Archäologen vorkommt wie eine Person in einem Schildkrötenpanzer, weshalb das Monument auch als die "Grosse Schildkröte" bekannt wurde. Ein anderer Deutungsversuch lautet, der Regengott Chac erscheine im Himmel aus einem Schilkrötenpanzer heraus. Man fragt sich auch, ob das Monument als Altar gedient habe.




Quirigua: Zoomorph P

Schaut man sich das Ding aber genauer an, so erkennt man das gute alte "Person in Monster"-Motiv wieder. Die Person wird mal als Regengott, dann als Werjaguar, dann wieder als kostümierter Herrscher interpretiert, denn sie trägt den typischen Helm und einen "Jaguarmund" - Merkmale, die als Stilelemente sowohl des Werjaguars als auch des Regengottes gelten, zu denen andernorts noch seine "Brillenaugen" gehören.






Skizze der Vorderseite des Zoomorph P
aus Quirigua








Seitenansicht des Zoonmorp P
aus Quirigua






Ebenfalls eine Person in einem Monstermaul stellt der Zoomorph G in Quirigua dar, auch diesmal vorne aus einer Öffnung herausschauend, selbstverständlich wie immer mit Helm ausgestattet. Beide Objekte - der angebliche Schildkrötenpanzer und das Monstermaul - sind mit zahlreichen technisch anmutenden Zeichnungen ausgestattet, von denen bislang niemand eine Ahnung hat, was sie bedeuten.
Um das Jahr 800 n.Chr. erfreute sich das Jaguar-Vogel-Schlangen-Motiv anscheinend großer Beliebtheit, denn es kommt allein in Chichen Itza gut fünfhundert Mal vor, unter anderem in Zusammenhang mit den in der Paläo-SETI-Forschung so gut bekannten "herabsteigenden Göttern". Auch in Chichen Itza sieht man Personen in den Rachen geflügelter Schlangen.
Zu Beginn der Postklassik um 900 n.Chr. ist das Motiv um Jaguar, Vogel- und Schlangenelemente bereits 2000 Jahre alt und noch immer erkennbar, obwohl es viele Änderungen durchmachte.
Noch in der Zeit kurz vor und nach der Eroberung Mexikos durch die Spanier tummelten sich in Bilderhandschriften Schlangemäuler, in die Personen hineingehen, Wolkenschlangen (Codex Zouche-Nuttall), auf denen Personen emporsteigen (Seldenrolle) oder ein "Bienenmonster mit Schlangenkopf, aus dem ein menschlicher Kopf herausschaut" (Codex Borgia). In einem Monstermaul-Höhleneingang sieht man einen "Feuerschlangengott mit Schildkrötenzügen" (Seldenrolle), und Codex Borgia bietet zudem noch eine von Rauch umgebene Schlange, in der eine Person mit Brillenaugen sitzt, oder Köpfe, die aus einem Schlangenrachen herausragen, "feuerspeiende Drachen", aufgesperrte Schlangemäuler neben Göttern in einem Boot, eine fliegende "Windschlange", eine wie ein Schiff geformte fliegende Schlange sowie vogelartige Objekte, aus denen Personen herausschauen, um nur ein paar wenige Beispiele zu geben.
Man sollte vielleicht endlich den Begriff "Monstermaul" durch die viel ehrlichere Bezeichnung "unbekanntes Objekt" ersetzen. Dann würden auf einmal behelmte Personen in unbekannten Objekiten sitzen oder stehen, die mit Zeichen ausgestattet oder versehen sind, die auf den Himmel oder das Fliegen hinweisen. Würde dann dieses uralte Motiv nicht doch einen Sinn machen? So gesehen hätten die Künstler zur Eroberungszeit, die den Gott Quetzalcoatl auf einer gefiederten Schlange sitzend und durch den Himmel fliegend darstellten, noch immer die gleiche Szene abgebildet, wenn sie diesen Gott auch besser - oder originalgetreuer - hätten in die fliegende Schlange setzen müssen.
Nachtrag: Als ich meinen Artikel "Stufen zum Himmel" schrieb, war mir noch nicht klar, in welchem Zusammenhang das "Monstermaul" - oder "kosmisches Monster" oder "Tor zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen" oder wie auch immer die phantasievollen Deutungsversuche der Archäologen lauten - mit dieser ausgefallenen Architektur steht, mit der ein Maya-Herrscher eine Reise in den Himmel imitierte und nachspielte. Nachdem ich für meinen Monstermaul-Artikel recherchiert hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Am Ende der Korridore und vor dem endgültigen Aufstieg in den Himmel wartete auf den Herrscher das Monstermaul - eben der Gegenstand, der ihn in den Himmel trägt. Dort, wo man einen Herrscher auf diesem Monstermaul stehend darstellte, hatte man nicht mehr genau verstanden, worum es ging. Dort, wo man das Monstermaul begehbar und bemannt darstellte, wusste man noch, dass man in das Ding hineinsteigen musste, um damit zwischen den Wolken zu fliegen, so wie dies sehr gut in Chalcatzingo gezeigt wird: einmal die behelmte Person in diesem Objekt sitzend, inmitten von himmlischen Wolken (El Rey), dann das begehbare Monstermaul (El Portuzuelo, das Tor-Monument), durch das bei irgendwelchen Riten offenbar hindurchgegangen wurde. Wer weiss, vielleicht wurde hier der Einstieg in das auf dem Boden abflugbereit stehende Objekt nachgespielt...
Literatur:
Coe, Michael D.: Olmec Jaguars and Olmec Kings. In. E. P. Benson: The Cult of the Feline: A Conference in Pre-Columbian Iconography. Washington, D.C., 1972
Coe, Michael D. / Rex Koontz: From the Olmec to the Aztecs. New York 2002
Covarrubias, Miguel: The Eagle, the Jaguar and the Serpent. New York 1954
Cyphers, Ann: From Stone to Symbols: Olmec Art in Social Context at San Lorenzo-Tenochtitlan. Washington, D.C., 1999
Ermel, Gisela: Das Heilige Bündel der Azteken. Gross-Geraus 2007
Ermel, Gisela: Das Rätsel von San Lorenzo. In: Sagenhafte Zeiten, Nr. 2, Beatenberg 2006
Ermel, Gisela: Flammenbaum und Sky Lords. In: Sagenhafte Zeiten, Nr. 1, Beatenberg 2007
Furst, Peter T.: The Olmec Were-Jaguar-Motif in the Light of Ethnographic Reality. In: E. P. Benson: Dumbarton Oaks Conference of the Olmec. Washington, D.C., 1968
Grove, David C.: Ancient Chalcatzingo. Austin, Texas, 1987
Grove, David C.: Olmec Felines in Highland Central Mexico. In: E. P. Benson: The Cult of the Feline. A Conference in Pre-Columbian Iconography. Washington, D.C., 1972
Joralemon, Peter D.: A Study of Olmec Iconography. In. Studies in Pre-Columbian Art and Archaeology, Nr. 7, Washington, D.C., 1971
Kubler, George: Jaguars in the Valley of Mexico. In: E. P. Benson: The Cult of the Feline. A Conference in Pre-Columbian Iconography. Washington, D.C., 1972



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Ancient Mail Verlag, Gross Gerau 2007
ISBN 978-3-935910-44-6
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